Interview | Aktuelle Trends in der Personalisierung

Interview mit Christian Matt, Professor und Mitdirektor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Universität Bern (Schweiz)

Herr Prof. Matt, inwieweit nutzt die Verlagsbranche im Vergleich zu anderen Branchen die Möglichkeiten der Personalisierung und was ist speziell in der Verlagsbranche?
Grundsätzlich geht es im Medienbereich vor allem darum, die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer zu gewinnen und zu halten. Ein typischer Anwendungsfall ist die Empfehlung eines neuen Artikels auf der Grundlage des Leseverhaltens eines Nutzers. Das Ziel ist also ein anderes als im Commerce-Bereich, wo es in erster Linie um den erfolgreichen Abschluss eines Kaufs geht. Bei der Umsetzung dieser Idee im Content-Bereich ist die Verlagsbranche im Vergleich mit anderen Branchen eher spät dran. Dies bestätigen auch Nutzerbefragungen. Fortgeschrittene personalisierte Nachrichtenangebote gibt es noch nicht flächendeckend, während es z. B. in der Musikbranche bereits viele etablierte, personalisierte Angebote gibt.


Was wird personalisiert? Und zu welchem Zweck?

Sehr erfolgreich wird Werbung personalisiert, man denke nur z. B. an die u. a. von Google entwickelten Verfahren für personalisierte Werbung. So lässt sich die Zielgenauigkeit von Werbung erhöhen, was wiederum den Preis der Werbung erhöht. Technisch ist dies aber noch immer anspruchsvoll.
Grundsätzlich lassen sich im Medienbereich auch Preise personalisieren. Einzelverkäufe sind im Medienbereich aber eher die Ausnahme, Flatrates sind der typische Fall. Und daher spielt die Personalisierung von Preisen nur eine untergeordnete Rolle.

Im Fokus der Personalisierung von Medienangeboten sollte aber natürlich die Personalisierung der Inhalte stehen. Früher war das nur für weniger komplexe Inhalte möglich, z. B. einfache Artikel. Heute geht dies auch mit komplexeren Inhalten, man denke z. B. an rechtliche oder medizinische Inhalte. Betriebswirtschaftlich will man in der Regel die Kundenbindung verbessern. Und mit mehr Daten über das Verhalten und die Wünsche eines Kunden kann man, zumindest grundsätzlich, zu immer mehr Personalisierung kommen – falls man dies denn möchte!


Das heißt mehr Personalisierung von Inhalten ist nicht immer besser?
Absolut. Nicht immer ist Personalisierung von Vorteil. Denken Sie nur an die negativen Schlagzeilen über die Ausnutzung von Personalisierungsmöglichkeiten zur Preisdiskriminierung im Online-Handel. Eine Differenzierung von Personengruppen hat auch ethische Implikationen, die es zu berücksichtigen gilt. Der unbedachte Einsatz von Personalisierungssystemen im Medienbereich kann ebenfalls zur Bildung von sogenannten Filterblasen führen und damit Meinungs- und Bildungsprozesse in der Gesellschaft beeinflussen. Diese negativen Auswirkungen einer zu starken Personalisierung sollten Verlage besonders im Blick behalten. Letztlich geht es darum, die richtige Balance zwischen einem sparsamen Umgang mit Nutzerdaten und der Vorteile durch personalisierte Angebote für Nutzer zu finden. Um Filterblasen oder Echokammern zu vermeiden, sollte man zum Beispiel „Serendipity“-Ansätze in die Algorithmen einbeziehen, also Inhalte vorzuschlagen, die auf den ersten Blick bewusst nicht zu einem einzelnen Nutzer und seiner Historie passen.
Letztlich geht es darum, das richtige Maß an Personalisierung zu finden. Wie gestalte ich Personalisierung? Diese Entscheidung kann nur unter Wahrung beider genannter Ziele und im Einzelfall getroffen werden.


Wie sehen Sie die Zukunft der Personalisierung? Welche Trends zeichnen Sie sich? Was sind wichtige Entwicklungen?
Personalisierung gibt es schon seit Jahren, aber sie wird immer elaborierter. In den letzten Jahren haben sich drei Trends herauskristallisiert. Erstens wird
die Personalisierung in Echtzeit, die sogenannte „Real-Time-Personalisierung“ immer besser. Technisch ist möglich, Nutzern durch Personalisierung individuelle Webseiteninhalte anzuzeigen, auch ohne die Nutzer vorher zu kennen. Das heißt, wenn ein Kunde zum ersten Mal eine Website besucht, kann diese bereits personalisiert werden. Neue Technologien liefern hierbei die Daten über das Nutzerverhalten in Echtzeit, was die Personalisierung erleichtert. Ein zweiter Trend ist die Omnichannel-Personalisierung. Unternehmen versuchen zunehmend ihre Kunden über verschiedene Kanäle anzusprechen und die Datensätze zu verknüpfen. Heute kann man übergreifende Profile erstellen und dafür Daten über verschiedene Geräte hinweg sammeln und analysieren. Auch das Thema „Predictive Personalization“ wird in Zukunft noch interessanter werden, denn mit künstlicher Intelligenz gibt es die Möglichkeit, Kundenverhalten zu antizipieren und über gezielte Maßnahmen unter anderem die Gefahr einer Kundenabwanderung zu reduzieren. So können Unternehmen kritische Momente für Marketingzwecke identifizieren und verstärkt proaktiv auf den Kunden eingehen (z. B. durch das Ausspielen von Pop-up-Fenstern im richtigen Moment). Drittens wurde die technische Basis geschaffen, um Emotionen auf Seiten den Kunden besser auszulesen und anhand von diesen, personalisierte Angebote zu schaffen. Diese Entwicklung ist Ausdruck des Fortschritts der impliziten Personalisierung, d.h. der Personalisierung ohne explizite Preisgabe von Präferenzen durch Nutzer.