Interview mit Mina Saidze „Wo zum Teufel bleibt unser deutscher Erfindergeist?“

Mina Saidze, Datenexpertin und Gründerin von Inclusive Tech, im Interview darüber, wie demokratisch und divers Künstliche Intelligenz sein kann und sollte

Du setzt dich dafür ein, dass Tech, Big Data und KI demokratischer werden. Was heißt das? Und warum ist das wichtig?

Data und AI Literacy ist für mich wie eine Sprache, die jeder beherrschen muss. Das bedeutet für mich konkret die Fähigkeit, Daten zu lesen, mit ihnen zu arbeiten, sie zu analysieren und zu kommunizieren – wie sonst in der Sprache auch: Nicht jede und jeder muss einen Roman schreiben können, aber unbedingt in der Lage sein, zu lesen und zu schreiben.

Der Aufbau von Daten- und KI-Kompetenzen wird immer wichtiger, damit jeder von uns an der Debatte teilhaben kann: Laut einer Studie von Forrester Consulting aus dem Jahr 2022 er- warten heute 82 Prozent der befragten Entscheidungsträger von ihren Mitarbeitenden in allen Abteilungen – einschließlich Produkt, IT, Personal und Betrieb – grundlegende Datenkenntnisse. Bis 2025 wird erwartet, dass fast 70 Prozent der Mitarbeitenden in ihrem Beruf viel mit Daten arbeiten werden – 2018 waren es noch 40 Prozent.

Nur wer Daten verstehen und kommunizieren kann und weiß, was KI ist und wie wir damit umgehen, kann in unserer Gesellschaft der Zukunft teilhaben.

Was, wenn ich mich noch überhaupt nicht auskenne mit Algorithmen, Daten, KI etc.? Müssen wir jetzt alle nochmal in die Schule oder wer bringt uns bei, mit KI umzugehen?

Ich finde es wichtig, dass auch junge Menschen verstehen: Wie schafft es die Shopping-Seite, mir genau die Kleidung anzuzeigen, die mir gefällt? Oder warum kann eine Dating-App womöglich die Liebe meines Lebens finden? Beim Schulfach Datenkunde sollte vermittelt werden, ab wann wir mit Daten konfrontiert sind. Schon ab dem Moment, in dem du dich durch eine App klickst, werden im Hintergrund Daten gesammelt. Daten sind ein integraler Bestandteil unseres Alltags und die Digitalisierung erfordert das Prinzip des lebenslangen Lernens. Die Datenanalyse ist eins der wichtigsten Skills im 21.Jahrhundert.

Der britische Premierminister Rishi Sunak erwähnte in seiner Rede die Bedeutung von Daten und Statistik für die Bildung der Zukunft: »Derzeit lernt nur die Hälfte aller 16- bis 19-Jährigen überhaupt Mathe. Doch in einer Welt, in der Daten allgegenwärtig sind und Statistiken jeden Arbeitsplatz untermauern, werden die Arbeitsplätze unserer Kinder mehr analytische Fähigkeiten erfordern als je zuvor. Und wenn wir unsere Kinder ohne diese Fähigkeiten in die Welt hinauslassen, lassen wir sie im Stich.« Deswegen fordere ich eine digitale Bildungsreform – und zwar jetzt! Wie diese genau aussieht, beschreibe ich im Buch.

Wo siehst du die größte Aufgabe für mehr Inklusion in der Tech-Industrie?

Unsere Maschinen sind nur so gut wie wir sie machen, und wir müssen es schaffen, dass wir diese endlich divers und fair gestalten. Wir dürfen Menschen nicht aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht oder Herkunft in Technologien wie der Gesichtserkennung ausschließen. Und das bringt uns zu einem grundlegenden Dilemma: Können Maschinen überhaupt moralisch handeln? Unsere menschliche Moral umfasst die unterschiedlichsten Lebensbereiche, bei einer Maschine hingegen bezieht sie sich auf einen bestimmten Anwendungsfall. So kann eine Maschine nicht wie ein Mensch in vollem Umfang moralisch handeln. Auch können Maschinen keine Emotionen empfinden, sodass sie nicht über ein Bewusstsein und damit auch nicht über Willensfreiheit verfügen.

Umso wichtiger ist es, dass wir mit dem Fortschritt der Technologie immer wieder die moralischen Herausforderungen im Blick behalten – auch wenn es keine einfache und kurze Antwort auf diese Fragen gibt. Manchmal bleibt die Antwort auch offen, weil die Debatte und der Forschungsstand in Kinderschuhen stecken. Trotzdem sollten wir die aktuellen Entwicklungen im Blick behalten und moralische und soziale Aspekte so früh wie möglich in der gesellschaftlichen Debatte wie auch im Design dieser Systeme berücksichtigen.

Wie stehst du zu Freiheit versus Regulierung für Tech?

Als Bürgerin möchte ich Freiheit genießen. Die Freiheit, mein nächstes Urlaubsziel zu wählen. Die Freiheit zu entscheiden, für wen ich arbeite. Und die Freiheit, über die Preisgabe und Kontrolle meiner persönlichen Informationen zu entscheiden, wenn ich digitale Dienste verwende.

Bei keiner meiner Entscheidungen kann ich mich dem Einfluss von Technologie ganz entziehen. Die Technologie kann entscheiden, ob ich von der Gesichtserkennung am Flughafen erkannt werde oder sogar als Sicherheitsrisiko eingestuft werde. Auch kann sie darüber entscheiden, ob ich zu einem Job-Interview eingeladen oder direkt ausgesiebt werde – aufgrund meines Lebenslaufs, der von einer KI ausgewertet wurde. Und Technologie weiß so viel über mich, dass sie entscheiden kann, wie sie meine persönlichen Informationen verwenden kann, um mich in meiner Meinungsbildung oder Konsumentscheidung zu beeinflussen. Von der Art und Weise, wie wir diese Technologien gestalten, ist es in höchstem Maße abhängig, ob sie einen positiven Einfluss hat oder sogar das Gegenteiliges bewirkt. Ich halte eine gute Balance zwischen Regulierung und Freiheit für sinnvoll, um die Entwicklungen nicht zu verlangsamen und einen ethischen Rahmen zu schaffen. Mit der EU-KI-Verordnung wird Europa Weltmeister für Tech-Regulierung sein.

Was muss Politik jetzt leisten, um eine gute Balance zu erreichen?

Es ist Zeit für eine Wende, im Zuge derer akute Probleme wie der Netzausbau endlich effizient adressiert werden, statt neue Leuchtturmprojekte wie Gaia-X ins Leben zu rufen, die in ihrer Komplexität massiv unterschätzt werden. Wenn es so weitergeht, hinken wir nicht nur noch weiter hinterher, sondern haben Ressourcen verschwendet, die in andere Projekte und Förderprogramme investiert werden könnten. Der Blick auf Technologien sollte uns daran erinnern, dass in Deutschland immer noch ein Mangel am Wesentlichen besteht, nämlich Laptops für alle Bürger, insbesondere Schüler, und eine digitale Infrastruktur.

FairTech bedeutet Zugang zur Digitalisierung und die Möglichkeit, diese zu gestalten. Es bedeutet auch, dass jeder Zugang dazu haben sollte, unabhängig von seinem Standort. Es ist an der Zeit, Funklöcher zu schließen und sicherzustellen, dass jeder einen Computer besitzen kann. Nur so können wir eine Zukunft schaffen, in der Technologie gerecht und für alle zugänglich ist. Indem wir die digitale Infrastruktur verbessern und allen Menschen die Möglichkeit geben, von den Vorteilen der Digitalisierung zu profitieren, können wir eine inklusive Gesellschaft formen, in der Technologie eine treibende Kraft für Fortschritt und Chancengleichheit ist.