Interview „Ich kann keinen Grund zum Optimismus erkennen“

Mark Schrader zeichnet ein düsteres Bild von der derzeitigen Lage des Pressevertriebs. Der Chief Distribution Officer fordert einen radikalen und schnellen Systemumbau – Foto: Martin Kess

Wie bewerten Sie die derzeitige Lage des Pressevertriebs? Wie ernst oder optimistisch stimmt Sie die aktuelle Situation?

Die momentane Situation sehe ich als kritisch an und ich kann keinen Grund zum Optimismus erkennen. Umsatz- wie Absatzentwicklung setzen nahtlos an die des sehr schlechten letzten Jahres an. Konzepte zur Stabilisierung, Restrukturierung und damit zur Zukunftsfähigkeit unseres flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertriebssystems – zumindest auf Verlagsseite – sind vorhanden, es wird entscheidend sein, was davon wie umgesetzt werden wird. 

Konsolidierung hat über viele Jahre hinweg den Markt geprägt, sowohl auf Verlags- und Nationalvertriebsseite als auch im Presse-Grosso. Erwarten Sie, dass dieser Prozess sich noch fortsetzt? Und um welche Ziele/Zwecke muss es dabei vorrangig gehen?

Der Prozess muss sich zwingend fortsetzen. Wir müssen aber auch über die noch möglichen Konsolidierungen hinaus denken. Wenn wir bei der heutigen – und vermutlich auch künftigen – Marktentwicklung nicht schnellstmöglich und konsequent alle Einsparpotentiale nutzen, wird die Herstellung und der Vertrieb von Printprodukten in Zukunft nicht mehr wirtschaftlich sein.

Wie technologiegetrieben ist Pressevertrieb heute? Wie stark verändern Innovationen z.B. rund um künstliche Intelligenz die Branche?

Die Lage ist – wie üblich – sehr heterogen. Man muss differenzieren zwischen solchen Marktteilnehmern, die auf Grund des momentanen Medien-Hypes meinen, vollmundig künftiges Engagement ankündigen zu müssen. Und denen, die KI-Möglichkeiten bereits früh erkannt haben und bereits produktiv nutzen, wie beispielsweise die Bauer Media Group.

KI versetzt uns im Vertrieb bei Bauer heute in die Lage, zielgenau die Verkaufswahrscheinlichkeiten jedes einzelnen Händlers für jedes Objekt und jede Heftfolge zu bestimmen und damit Kosten (für Verlag und Grosso) sowie Aufwände (für den Einzelhandel) zu senken. Gleichzeitig werden wir viele Prozesse mittels KI weiter deutlich vereinfachen und damit Synergien in der gesamten Supply-Chain heben. 

Wie muss eine schlagkräftige Vertriebseinheit eines Verlags heute aussehen? Welche Strukturen und Prozesse braucht es?

Vertriebseinheiten benötigen schlanke, effiziente Prozesse, um den möglichst größten Nutzen für die Verlage aus dem Markt zu holen. Dabei werden Daten immer wichtiger, nicht nur für KI. Denn aus den Daten, vielmehr der Kombination und Gegenüberstellung von Daten unterschiedlichster Quellen, können objektive Vertriebsentscheidungen getroffen werden. Die Zeiten der Steuerung nach Gefühl mit dem vielzitierten „Vertriebsdaumen“ sind passé. Vertrieb wird in Zukunft noch stärker datengetrieben sein. Wir werden uns vermutlich zu unterschiedlichsten Zweckgemeinschaften zusammenschließen müssen, um die dafür nötigen Investitionen zu stemmen und die technischen Plattformen gemeinsam betreiben zu können. Dazu benötigen wir strategisch denkende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die diese technischen Plattformen intelligent steuern.

Mit welchen Fragen und Herausforderungen muss sich die Branche in 2023/2024 besonders intensiv befassen? Wo ist der Handlungsdruck aktuell am größten?

Zentrale Herausforderung ist weiter die Zukunftssicherung unseres Pressevertriebssystems. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen von der vielleicht momentan „gefühlten“ Entspannung. Die Papierkosten werden langfristig weiter steigen und auch die Copy-Preiserhöhungen werden an ihre Grenzen stoßen. Übrig bleibt dann ein Markt, der auch in diesem Jahr wieder zehn bis zwölf Prozent seines Absatzes verliert. Momentan, noch aus einer relativen Position der Stärke heraus, haben wir die Kraft, viele der notwendigen Veränderungen vorzunehmen. Das Zeitfenster beginnt sich aber zunehmend zu schließen. Wenn wir jetzt nicht radikal, schnell, konsequent den Systemumbau beginnen, wird uns das bereits in wenigen Jahren auf die Füße fallen.

Mark Schrader wird seine Überlegungen zur Zukunft des Pressevertriebssystems auch beim MVFP Distribution Summit 2023 vorstellen. Das Event steigt am 29. August 2023 in Hamburg. Infos und Anmelde-Optionen gibt es unter mvfp-akademie.de/mvfp-distribution-summit.